Weihnachten in der Turnhalle

Hier blieben wir vier Tage. Außer uns hatte noch ein Jäger seinen Platz dort. Ein großes Zelt aus schweren, bunten Leinenstofftüchern ragte stolz aus dem nassen Gras empor. Es war fast so, als würde der Prinz von Persien neben uns campen. Abends duftete es nach gebratenen Zwiebeln – aber seine Hoheit bekamen wir nie zu Gesicht.

Ab und an hielten Reisende, Familien und Campervans, um auf den alten Holzbänken zu pausieren. Ansonsten waren Rani und ich die einzigen Menschenseelen inmitten dunkelgrüner Waldhöhen.

Am 5. Tag, es war der 23. Dezember, brachen wir wieder auf. Wir wollten Weihnachten in Gisborne verbringen. Wir wollten zwischen Familien am Strand picknicken. Wir wollten unter jungen Leuten feiern. In der Stadt, die am östlichsten Spitz Neuseelands liegt und somit die Sonne jeden einzelnen Tag als erstes aufgehen sieht.

So wie wir an diesen Platz von einem alten Ehepaar abgeliefert worden waren, so nahm uns wieder eines mit weg. Nur war das Transportvehikel diesmal ein schmaler, eleganter Reisebus. Außen traf beiges Blech auf dünne Goldlinien, innen eierschalenfarbene Couchen auf dunkelhölzerne Einrichtung. Alles glänzte und blitze. Es roch nach dem Parfüm der alten Dame. Eine zierliche Frau, deren angemalte Finger unter Goldringen klimperten. Wir nahmen vorsichtig Platz und rührten uns, kaum dass wir saßen, nicht mehr (oder versuchten es zumindest, denn die Kurven rüttelten uns ganz schön durch). Wir hatten Angst, durch zu hastiges Handeln die zarte Porzellandeko zu zerbrechen – oder durch zu schnelle Bewegungen die Duftwolke mit unseren ungeduschten Körpergeruch zu übertünchen.

So kamen wir nach 243 weiteren Kurven und ohne unfreiwillige Randale auf die Inneneinrichtung in die „Sonnenstadt Neuseelands“. Nach dieser luxuriösen Limousinenfahrt machten Rani und ich uns es erst einmal auf einer Bank mitten in der Stadt bequem. Genossen die Sonnenstrahlen, die endlich wieder vom Himmel fielen. Beobachteten das Gequierle um uns herum, das sich überall die Hände schüttelte uns sich fröhliche Weihnachten wünschte. Bestaunten die bunte Weihnachtsdekoration, die uns von allen Seiten her ansprang.
Rani war gerade unterwegs, um sich ein Eis zu kaufen, da kam ein stattlicher Mann direkt auf mich zu. Als er vor mir stand und ich ihn gegen die Sonne von unten her anblinzelte, durchzuckte es mich: er sah aus wie meine, Manns gewordene, Grundschulliebe Gregor: tiefe Grübchen, diese weißen Flecken auf den Zähnen, die aussahen wie unverputzte Zahnpasta, Borstenschnitt. „Good day! Where are you from?“, war seine erste Frage. „Have you got a place to stay the night?“, schoss er die zweite gleich hinterher. Ich war so perplex, dass ich die erste mit “yeah” und die zweite mit “no” beantwortete, und dabei meinen Kopf kreisen lies wie ein Wackeldackel.

Ian (nicht Gregor) ist der Direktor der örtlichen Mädchen Highschool – und genau dorthin nahm er Rani und mich mit. Und überließ uns während der Feiertage die gesamte Turnhalle. Wir schliefen im Sportlehrerbüro. Die eine Tür führte ins Bad (mit Dusche!), die andere in die riesige Anlage hinaus. Und hinter der Anlage: eine Tür ins Freie – ins Freie, mit Pool.

Ian war für mich nicht der Direktor der Mädchenschule, sondern der Bürgermeister der Stadt: Während unserer Autofahrten durch die Straßen, hatte er für jeden Passanten eine Geschichte parat: Die hier war die Mutter einer sehr talentierten Basketballspielerin, das war der Bankchef, ein reicher Herr mit reichem Verstand, dem Mädchen dort drüber habe er einmal auf einem Schulausflug das Leben gerettet… Und Ians Frau, Rose, war die First Lady. Jeder kannte sie, als sie in einem langen, schwarzen Kleid und geflochtenem Einkaufskorb über den Bauernmarkt schritt, um Orangen zu kaufen. Zusammen waren Ian und Rose das schönste Ehepaar, das ich je gesehen habe. Sobald sie aufeinander trafen, leuchteten sie auf, als wären sie eine chemische Reaktion, die unablässig miteinander reagierte.

Der 24. Dezember kam mit unserem lang ersehnten Picknick. Alles, was das Herz begehrte, gönnten uns Rani und ich an diesem Tag, deckten uns zu mit Delikatessen und breiteten uns auf einer Wiese aus. Wir waren die einzigen weit und breit. Jeder Kiwi, den wir seit November getroffen hatten, hatte uns erzählt, er feierte Weihnachten mit einem Picknick am Strand – doch keiner hatte uns gesagt, dass erst am 25. werden gefeiert würde. Also zelebrierten Rani und ich wohl als einzigste am 24. Dezember in Neuseeland Weihnachten… aber wir waren glücklich. Denn das Christkindl hatte unseren Brief gelesen: Essen gab es im Überfluss, und mit dem Privat Pool in unserer Unterkunft hatte es sogar den Wunsch nach Erhaltung unserer Bikini Figur erhört.

Nach zwei Monaten Konservenbüchsen wurden wir von unserem Picknick total high. Nach eineinhalb Brötchen lagen wir kichernd im Gras und hielten uns unsere kugelrunden Bäuche. Der Wein hatte zu dem Zeitpunkt gar keinen Platz mehr im Magen, was wahrscheinlich gut so war, denn der hätte uns wohl völlig durchdrehen lassen. Den ganzen 24. lagen wir in der Wiese am Flussufer und schnabulierten. Und doch hatten wir am Schluss genauso viel, wie wir anfangs eingekauft hatten. Nach ein paar Stunden beschlossen wir dann einen Standortwechsel. Bewegung würde uns gut tun. Nach 100 Metern konnten wir nicht mehr und ließen uns auf einer Bank nieder. Zu allem Übel stand die Bank direkt einem Fastfood Restaurant gegenüber. Mit leidenden Mienen beobachteten wir das Ein und Aus der Gaststätte – mir wurde schon bei dem Gedanken an fettiges Essen schlecht. Die Konversation zwischen Rani und mir bestand aus tiefen Seufzern und leidvollen Jammern, gefolgt von heiseren Kicheranfällen. Gekrümmt saßen wir da, als sich plötzlich wieder jemand vor uns aufbaute. „Hey girls – where are you from?“. Und noch bevor wir schauen konnten, polterte uns die zweite Frage entgegen: „Where will you celebrate Christmas tomorrow?“. Mit kreisenden Köpfen nahmen wir die Einladung von dieser wildfremden, jungen Frau entgegen, morgen an ihrem Tisch im Kreise der Familie Weihnachten zu feiern. Mit dem Satz „I´m Emma, by the way“, war sie auch schon wieder verschwunden, unser Weihnachtsengel.

Und so kamen Rani und ich doch dazu, nach neuseeländischer Tradition Weihnachten zu feiern. Bei tief stehender Abendsonne wurden wir von dieser Familie auf ihrem neu ausgebauten Sonnendeck so begrüßt, als wären wir jahrelange, enge Freunde und nicht irgendwelche Umherziehenden, die Emma von der Straße geholt hatte. Wenn ich am 24. von Delikatessen gesprochen habe, dann war das, was uns dort in der Whitaker Street aufgetischt wurde, ein Schlemmerbuffet, unser Abendmahl, eine Götterspeise. Als wir dann auch noch mit einer selbstgemachten Kette aus der Pauamuschel beschenkt wurden, konnte ich meine Tränen – die wohl für all die Gastfreundschaft, die mir hier in diesem Land begegnet war, standen – nicht mehr zurückhalten. Und ich fragte mich: Liegt es an der Sonne in dieser Stadt – oder nehmen die Kiwis Ausdrücke wie fröhliche Weihnachten und Fest der Liebe doch noch wörtlich?