Die Autobahn aus gelbem Sand
Wir schliefen auf der ausgebreiteten Zeltplane auf dem Grasstück neben dem Auto. Der Nachthimmel war klar und von blitzenden Sternschnuppen erfüllt – aber klirrend kalt. Die ersten Sonnenstrahlen kitzelten unsere Nasenspitzen, die als einzigstes Körperteil aus dem Schlafsack hervorlugten, und weckten uns. Das Gras was nass vor Tau und diente als freundlicher Frischmacher für unsere nackten Zehen.
Heute wollten wir hoch zum Ninety Mile Beach – dem Strand, der eigentlich nur 50 Meilen misst und den Rani und ich in unseren anfänglichen Neuseeland Vorfreuden ablaufen wollten. Auf unserem Weg nordwärts machten wir noch einen kleinen Zwischenstopp im altbekannten Buschhäuschen, um das Auto von der schweren Taschenlampenlast, die uns sowieso nur Enttäuschung eingebracht hat, zu befreien und außerdem die Küchenschränke für Vorräte (Honig!) zu plündern.
Am frühen Nachmittag erreichten wir ein kleines Dörfchen am Anfang des langen Strandes. Nachdem wir unser Fahrzeug geparkt und uns unter sengender Hitze über die heißen Sanddünen gequält hatten, lag sie vor uns: die Autobahn aus gelbem Sand. Schwarze Jeeps mit schwarzen Insassen und schwarzer Musik pesten über den lockeren Grund und wirbelten eine weiße Wolke hinter sich auf. Rote, grüne, gelbe, pinke Touristenbusse tuckerten langsam an den Wellen vorbei und stoppten alle paar Meter, um die fotogierigen Passagiere einen weiteren Abschnitt von Sand, Dünen und Meer ablichten zu lassen. Autospuren von Allradfahrzeugen zogen sich, soweit das Auge reichte, den Strand entlang. Totgefahrene Seevögel lagen wie die Opossums auf der „Straße“. Und wir waren heilfroh, dass wir erstens hier mit einem Auto hergekommen waren und die Strecke doch nicht liefen, und zweitens das besagte Fahrzeug auf dem Sand untauglich war.
Als der Meeresspiegel langsam stieg, schwanden die Flitzer und die Anwohner kamen wie scheue Waldtiere langsam aus ihren Häuserverstecken hervor. Kinder verwandelten tiefe Profilspuren in fantasievolle Sandschlösser, Picknickdecken wurden ausgebreitet und der ein oder andere Mutige sprang noch in die Fluten.
Der Himmel färbte sich schon in ein gräuliches orange und die Sonne setzte zum Untergang an. Campbell hatte die Henkeltaschenlampe vom Vortag daheim in Feuerwerkskörper umgetauscht. Es war Samstagabend – der Abend vor dem ersten Advent. So entzündeten wir unser erstes Adventsfeuerchen und gaben mit den sprühenden Funken der untergehenden Sonne unsere vorweihnachtlichen Grüße an das andere Ende der Welt mit – nach Deutschland.
Wir saßen in den Dünen, tranken Maverick – ein pappsüßes, nach Cola- und Bourbonschmeckendes neuseeländisches Mixgetränk -, und sahen zu, wie sich der Himmel langsam zu einem dunkellilalen Grau färbte uns schließlich in ein strahlendes Dunkelblau überging. Dann begaben wir uns auf Schlafplatzsuche – eine Herausforderung, die Rani und mir jeden Tag auf´s Neue Überraschungen einbringt und die eigentlich unseren Tagesablauf bestimmt. Mit Campbell und seinem zugehörigem Schlitten war die Suche natürlich erschwert, denn wir brauchten Park- und Schlafplatz. Die Dünen waren zu uneben und windig, als dass wir dort etwas gefunden hätten. Außerdem wollte Campbell seinen Wagen ungern unbewacht auf dem Parkplatz stehen lassen. Also entfernten wir uns von dem Anwohnerblock und kamen mit schwachen Scheinwerferlicht in eine Ferienhaussiedlung. Diese schien größtenteils unbewohnt – in Neuseeland gingen die Ferien erst ab Weihnachten los. Wir suchten uns das Haus mit dem besten Parkplatz aus und schlugen unser Lager im Hintergarten unter der Wäscheleine auf. Wieder war es eine klare Nacht und die Plane als Unterlage genügte. Dann nahmen wir die übrigen Maverick-Dosen, unsere Schlafsäcke und huschten auf die Holzterrasse des Nachbarhauses. Auf den rustikalen Liegestühlen fläzend bestaunten wir die Sicht auf die Dünen, das dahinterliegende dunkle Meer mit seiner Wellengischt als zarte Linien, die verrückte Architektur der anderen Ferienhäuser und des „unseren“, den riesigen Steingrill auf der Terrasse und den Sternenhimmel der südlichen Hemisphäre. Wir saßen noch lange dort und erst als wir es vor Müdigkeit kaum noch aushielten, schlichen wir uns zurück auf unsere Plane, wo wir sobald tief und fest schliefen.
Wir schliefen lange – zumindest länger als die Sonne. Wir waren auf der Westseite des Hauses gelandet und ruhten so im angenehm kühlen Schatten. Bis uns ein Rauschen aufweckte. Das der Wellen? Wir blickten uns mit verschlafenen Augen an. Aber wir waren doch zu weit weg vom Ozean? Es kam Stimmengewirr dazu. So früh am Tage schon Leute am Strand? Wir richteten uns schlaftrunken auf. Die Wäscheleine… der gemähte Rasen… Hinter uns schepperte es. Ein braungebrannter Arm öffnete weit ein Fenster. Wir drehten uns um und blickten in ein verdutztes Gesicht. Noch bevor der Mensch, zu dem das Gesicht gehörte, es zur Terrassentür schaffte, rafften wir die Plane zusammen, rannten zum Auto, schmissen, stopften, schluderten das Zeug irgendwie in den Innerraum um rasten hysterisch kichernd davon.