Kenny C
Die Südinsel hatte ich hinter mir gelassen. Im Schneidersitz saß ich stolz auf der mittlersten Bank auf dem höchsten Deck der Fähre und sah zu, wie das weiße Picton unschuldig im Grün und Blau der Malborough Sounds verschwand. Ich musste nicht tun. Gar nichts. Nur dasitzen und den salzigen Meereswind durch mein Haar fahren lassen. Alles andere machte der schnurrende Schiffsmotor. Und trotzdem empfand ich tiefste Traurigkeit. Denn es war so, wie Rani noch gesagt hatte, die Südinsel war ihre ganz eigene Reise gewesen. Und diese war nun vorbei. Wendet man das Blatt aber, begann auf der anderen Seite für die Nordinsel auch wieder etwas Neues. Wenn auch nur für meine restlichen 7 Tage.
Nach zwei Tagen in Wellington, die ich mit einem Iren im Irish Pub (welch Überraschung!) verbracht hatte, kam ich mit einem Umzugswagen, einer CocaCola Vertreterin und Michael, dem Monstertruck Fahrer am dritten Tag nach Wanganui. Dort kämpfte ich mich den endlos scheinenden Berg hinter der Stadt hoch, um mich noch einmal in eine Fahrt ins Ungewisse zu stürzen. Schwer schnaufend und verschwitzt stand ich am Straßenrand. Hier auf der Nordinsel war wirklich schon der Frühling angebrochen – auch für die Menschen, stellte ich unter der Frühlingssonne fest und krempelte die Ärmel meines dicken Schafwollpullovers hoch. Ein langer Sattelschlepper kam, genau wie ich davor, langsam den Berg hochgekrochen. Ich hatte keine Energie mehr, meinen Arm wie sonst nach oben zu reißen. Ein Mundwinkel formte ein erschöpftes Lächeln, der andere blieb einfach hängen. Der Lastwagen hielt trotzdem und ich hievte mich und mein Gepäck mit letzter Kraft auf den Beifahrersitz.
Der Fahrer erklärte mir gleich, dass es ihm eigentlich verboten sei, mich mitzunehmen, weil er giftige Chemikalien transportierte und ich im Falle eines Unfalles nicht versichert sei. Aber er hat mich heute schon laufen sehen, zuerst in Waikanae, kurz hinter Wellington, und dann hier in Wanganui – ein drittes Mal wollte er mich nicht stehenlassen. Trotzdem solle ich mich bei jedem Anruf ruhig verhalten, damit mich keiner bemerke. Truckdriver und ihre Telefonate: entweder greifen sie, gleich nachdem sie einen aufgegabelt hatten, zu ihrem Handy und funken ihren Kollegen an, um mit ihrer „Beute“ anzugeben – da soll man dann am besten amüsiert mitlachen und mit dem Kollegen ein wenig schwätzen. Oder man muss mucksmäuschenstill daneben kauern, weil ja keiner mitbekommen soll, dass noch einer im Führerhäuschen sitzt.
Nach etwa einer halben Stunde beschloss Kenny, mein Truckdriver, jedoch, ein Telefonat zu führen, bei dem ich mitreden durfte: Seine Firma hatte für ihn für die Nacht aus Versehen ein Doppelzimmer statt einem Einzelzimmer in einem Motel gebucht. Kenny wollte mich nicht irgendwo im Busch schlafen lassen – also rief er Patricia an, seine gute Freundin und die Besitzerin des besagten Motels. Er fragte, ob er Besuch mitbringen dürfe. Er durfte. Und so fuhr der schwere Truck wiederum eine halbe Stunde später auf den Parkplatz des Kiwi Motels. Patricia begrüßte Kenny mit einer freudigen Umarmung in ihren kurzen Ärmchen und bewunderte mich um meinen Mut, allein als Mädchen unterwegs zu sein. Die kamen mir, seit Rani weg war, ständig unter, diese staunenden Augen und schüttelten Hände. Diesmal hielten die schüttelnden Hände aber auch noch einen Zimmerschlüssel für mich bereit – und das machte die Bewunderungsszene nicht ganz so verlegen. Ich war noch nie zuvor in einem Motel gewesen, aber mein geübter Zimmermädchenblick sagte mir, dass es sehr gemütlich war.
Es klingt wahrscheinlich schäbig, mit einem LKW Fahrer in ein Motel zu gehen, weil seine Firma eine Fehlbuchung gemacht hatte. Aber Kenny war ein witziger und ehrlicher Typ – soweit ich das nach einer Stunde Fahrt beurteilen konnte. Er war Schotte. Und ich tat mich anfangs unheimlich schwer, seinen Akzent, den er nach 8 Jahren in Neuseeland immer noch nicht abgelegt hatte, zu verstehen. Der schottische Dialekt klingt wie sächsisches Englisch. Wenn du dir also vorstellst, neben dir säße einer aus dem tiefstem Sachsen und spräche Englisch, beziehungsweise tausche die deutschen Wörter nur in englische um, der Akzent bliebe erhalten, ist das Schottisch gar nicht mehr so unverständlich und klingt nebenbei wahnsinnig komisch. Und ein Komiker war Kenny sowieso: er hüpfte gerade zwischen Badezimmer und Küche des Motels hin und her im Versuch, sein Arbeitshemd aus zuziehen.
Dabei fragte er mich aus, welche Musik ich höre, ob ich ein Instrument spielte… Ich sagte ihm, ich hätte eine Mundharmonika dabei. Er warf sein Hemd beiseite und blickte mich mit großen Augen an. Ich gab ihm meine Harmonika – und seine Augen strahlten wie die eines Kindes unterm Christbaum. Dann stand er vor mir, der Schotte Kenny in blau karierten Boxershorts, eigentlich auf dem Weg in die Dusche, und spielte auf meiner Mundharmonika. Das Wasser prasselte im Hintergrund zu ‚Amazing Grace’. Seine nackten Füße tappten im Takt auf dem Fliesenboden. Sein Schildkrötenkopf (Kenny hatte kaum Hals, dafür eine Glatze) zuckte vor und zurück. Ich saß beeindruckt am Küchentisch und starrte ihn an, die Essenskarte aufgeschlagen – denn auch das Essen ging auf seine Firma.